Karte und Infokasten Bolivien

Von Heiko Flink (Veröffentlicht im KOMPASS #6 Migration anders denken)

Heiko Flink ist Kooperant des Weltfriedensdienst im Projekt K’acha Kausakunapaq (Quechua für: „Damit wir alle in Harmonie leben“) in Bolivien. Das Projekt setzt sich für eine stärkere Friedenskultur im Departement Potosí ein. Im KOMPASS berichtet er, welche Folgen die Binnenmigration in Bolivien für das Land und die Menschen dort hat.

Bolivien liegt im Herzen des südamerikanischen Konti­nents, die Mehrheit seiner rund 11 Millionen EinwohnerInnen hat einen Migrationshintergrund. Lange vor der Kolonisa­tion siedelten sich verschiedene Kulturen auf dem heutigen Staatsgebiet an, wie auch das Volk der Tiawanaku (Ayma­ra-Kultur). Es gründete zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert Cusco, die Hauptstadt des Inkareiches. Mit der Kolonisation kamen ab dem 16. Jahrhundert SpanierInnen und afrikanische SklavInnen in das Land. Zur Zeit der faschistischen Regime in Europa suchten Juden und Dissidenten aus ganz Europa auch in Bolivien Zuflucht. Später schlossen sich auch viele faschistische Schergen an. Auch aus Asien, Nordafrika, dem Balkan sowie den Nachbarländern suchen MigrantInnen neue Chancen in Bolivien.

Auf der Suche nach Arbeit und sozialem Aufstieg

Seit der Wiedereinführung der Demokratie 1982 lassen sich in Bolivien zwei wesentliche Migrationsbewegungen identi­fizieren: diejenige der städtischen Mittelklasse, die ins Aus­land führt, hauptsächlich nach Argentinien (273.000), Spanien (137.000) und in die USA (133.400). Wesentlich stärker ist die zweite Bewegung, die Binnenmigration der indigenen Bevölke­rungsteile (hauptsächlich Aymara und Quechua) aus den ärms­ten Departements Potosí und Chuquisaca in die wohlhabenden Departements Santa Cruz und Cochabamba bzw. in deren gleichnamige Hauptstädte. So wurde aus der kleinen, mitten im Amazonas-Urwald gelegenen Provinzhauptstadt Santa Cruz innerhalb weniger Jahrzehnte die bevölkerungsreichste und wirtschaftlich wichtigste Metropole des Landes.

Hauptgrund für die Binnenmigration indigener Bevölke­rungsgruppen war und ist die Suche nach Arbeit und einem damit verbundenen sozialen Aufstieg. Das im Hochland verbrei­tete Ayllu-System – der Zusammenschluss von mehreren indi­genen Gemeinden zu einer politischen, sozialen und wirtschaft­lichen Einheit mit gemeinschaftlichem Besitz an Grund und Boden – sichert zwar das Überleben des Einzelnen, aber kaum mehr. So gab es bereits kurz nach der Unabhängigkeit Boliviens im Jahr 1825 eine ausgeprägte indigene Wanderungsbewegung im Hochland hin zu den unzähligen Minen.

Umweltprobleme und schlechte Infrastruktur

Mit der extremen Dürre 1983–1985 setzte eine Wanderungs­bewegung zu den damals kaum bevölkerten Tieflandregionen Beni, Cochabamba, Tarija und Santa Cruz ein. Es gab staatliche Programme, die dies unterstützten, zudem boten der dort lang­sam aufblühende Handel sowie die Öl-, Gas- und Agrarindus­trie Arbeitsplätze. Ähnliche Folgen hatte die Wirtschaftskrise zwischen 1985 und 1990. Sie machte viele Minenarbeiter arbeits­los und ließ sie hauptsächlich in die Provinz Chapare (Coch­abamba) und nach El Alto (La Paz) abwandern. Die zunehmen­den Umweltprobleme wie Wasserverschmutzung und extreme Dürren sowie mangelnde Verkehrs-, Bildungs- und Gesundheit­sinfrastruktur kommen heute als Abwanderungsgründe für die Hochlandbevölkerung hinzu.

Berg über Siedlung in Bolivien

Foto: Bela Allenberg

Seit 1976 hat sich die bolivianische Bevölkerung mehr als ver­doppelt, von damals 4,6 auf heute knapp 11 Millionen Einwohner­Innen. In dieser Zeit hat die Abwanderung aus ländlichen Gebie­ten in die Städte stark zugenommen – lebten 1976 noch mehr als 60 Prozent der Bevölkerung auf dem Land, waren es 2001 nur noch 40 Prozent, mit Tendenz zu weiterer Verstädterung.

BinnenmigrantInnen in den Städten: Ein Leben in Entfremdung

Der Großteil der BinnenmigrantInnen arbeitet heute im schlecht bezahlten informellen Wirtschaftssektor. Es ist ein Leben kaum besser als in den Herkunftsgemeinden – Armut, mangelnde Grundversorgung und hohe Kriminalitätsraten bestimmen in den Vorstädten den Alltag. Die indigene Bin­nenmigration führte aber auch zur Stärkung der indigenen Identität. Insbesondere die starke Migration von den indigenen Gruppen Quechuas und Aymaras ins westliche Tiefland und in dessen Städte ermöglichte den Aufstieg von Evo Morales. Im Jahr 2005 wurde er zum ersten indigenen Präsidenten Latein­amerikas gewählt. Heute setzt er die Binnenmigration gezielt als politisches Mittel ein, um seine Wahlchancen zu erhöhen. Ihm loyale Indigene werden in Gebiete umgesiedelt, in denen sie mit ihren Stimmen Wahlen zu seinen Gunsten beeinflus­sen können. Die übrigen 34 indigenen Völker bleiben jedoch weiterhin marginalisiert und diskriminiert, oft von dominanten Quechuas und Aymaras.

Insgesamt hat die Binnenwanderung Bolivien in den letzten Jahrzehnten wesentlich geprägt. Sie hat jedoch nicht zu einem vermehrten Austausch der Kulturen, zu Interkulturalität und Toleranz geführt, sondern zu verstärkter Abgrenzung und Entfremdung. Oft sehen sich bestimmte ethnische Gruppen gegenüber den anderen als überlegen, was auch durch politische und ethnopopulistische Narrative gefördert wurde. Residentes (MigrantInnen) halten ihre ursprüngliche Kultur in Ehren, auch in den Städten und Gemeinden, in die sie ausgewandert sind. Dabei behalten sie ihr Mitspracherecht in der Gemeindever­sammlung der Herkunftsgemeinde. Wenn sie in ihre Heimat zurückkehren, zeigen sie mittlerweile kaum mehr Respekt vor dieser Kultur. Sie versuchen vielmehr, in ihre genossenschaftlich organisierten Dorfge­meinden (Ayllus) Sitten und Bräuche aus der Stadt sowie den dort erfahrenen Turbokapi­talismus einzuführen. Das führt zu Konfliktpotenzialen zwischen dem traditionellen Leben der „Dageblie­benen“ und den städtischen Pers­pektiven der „Rückkehrer“.

Dialog für ein neues Zusammenleben

Für die Beilegung von Konflik­ten zwischen Zurückkehrenden und den estantes (nicht migrierte Bevölkerungsteile) setzt sich das Projekt K´acha Kausakunapaq im Departement Potosí ein, dem ärmsten und am meisten von Abwanderung betroffenen Gebiet Boliviens. Die kargen und schwierigen Lebensbedingungen haben in den letzten Jahrzehn­ten viele BewohnerInnen in die Städte und wohlhabenderen Departements getrieben. Viele der MigrantInnen respektieren mit der Zeit immer weniger die althergebrachten Bräuche und Traditionen. So weiteten residentes und ihre lokalen Unter­stützer im Ayllu Opoco den Anbau von Quinoa immer weiter aus, ohne Rücksicht auf die Entscheidungen der Ayllu-Auto­ritäten oder die Rechte und Bedürfnisse der ortsansässigen KleinbäuerInnen zu nehmen. Das vom Weltfriedensdienst e.V. unterstützte Projekt konnte einen Dialogprozess zwischen den Parteien starten, in dessen Verlauf gegenseitiges Verständ­nis und Respekt für die traditionellen Organisations- und Entscheidungsformen entwickelt wurden. In einem längeren Verhandlungsprozess gelang es schließlich, eine überarbeitete und modernisierte Ayllu-Verfassung zu beschließen. Die neue Ayllu-Verfassung ist Grundlage für ein gemeinsames und fried­liches Zusammenleben im armen Departement Potosí.

 

Mit der diesjährigen Ausgabe unseres Themenmagazins KOMPASS „Migration anders denken“ begegnen wir mit „Perspektiven aus dem Globalen Süden“ den unterschiedlichen Facetten von Migration.

Laut der „Internationalen Organisation für Migration“ macht die Süd-Süd-Migration mit mittlerweile mehr als 92 Millionen MigrantInnen den größten Teil der weltweiten Migration aus. Im KOMPASS #6 werfen 12 Beiträge, die unsere SüdpartnerInnen in Afrika, Südamerika und Asien gesammelt und aufgeschrieben haben, ein neues Licht auf die Thematik.

 

15.05.2018

Gepostet in: Bolivien: Prävention und Konflikttransformation, Der KOMPASS - Das Themenheft des Weltfriedensdienst