Von Vivien Martens (Veröffentlicht im KOMPASS #6 Migration anders denken)
Vivien Martens lebt seit 2008 in Simbabwe und arbeitet dort seit 2015 für den Weltfriedendienst e.V. als Beraterin bei der Frauenrechts-NGO Musasa für Planung, Monitoring, Evaluation und Wissensmanagement. Sie erklärt, wie Migration auch eine Chance sein kann, um Frauen zu stärken.
Nach vielen Jahren der Misswirtschaft und Korruption in Simbabwe steckt die einstige Kornkammer Afrikas in einer steten Abwärtsspirale der Rezession. Das Land befindet sich momentan auf Rang 154 (von 188) des Human Development Index (2016). Die Wirtschaftskraft ist enorm gesunken, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit haben einen Tiefststand erreicht, viele Unternehmen schließen. Die Arbeitslosenrate wird auf 80 bis 95 Prozent geschätzt. Die Mehrheit der Bevölkerung ist im informellen Sektor beschäftigt und versucht sich zum Beispiel als Straßenverkäufer über Wasser zu halten. Auf dem Land betreiben die meisten Menschen Subsistenzlandwirtschaft, kleine Überschüsse werden zum Verkauf oder Tauschhandel angeboten. Die Qualität des Bildungswesens ist stark gesunken. Viele Kinder verlassen die Schule, da ihre Eltern sich die Schulgebühren nicht mehr leisten können. Auch im Gesundheitswesen sieht es ähnlich düster aus. Darüber hinaus befindet sich das Land in einer extremen Bargeldkrise.
Die derzeitige Entwicklung Simbabwes trägt dazu bei, dass breite Bevölkerungsteile zunehmend verarmen. Ein Großteil der Bevölkerung ist auf der Suche nach Antworten auf die existenzielle Frage, wie sie sich und ihre Familien versorgen können. Sie sehen nur noch eine Lösung: ihr Glück woanders zu versuchen. Seit der Krise ab 2000 migrieren alleine über 3 Millionen Menschen in das Nachbarland nach Südafrika.
Simbabwe hat eine stark hierarchisch geprägte Kultur, in der der Status von Frauen weit unter dem von Männern rangiert. Dies ist in den Städten Alltag, aber noch weitaus mehr auf dem Land gelebte Realität. Es gibt rigide Vorstellungen von Maskulinität und Femininität. Damit verbunden sind Gendernormen und -stereotype, die genau festlegen, wie Frauen und Männer zu sein und was sie zu tun und zu lassen haben. Von Frauen wird erwartet, dass sie sich um den Haushalt und die Betreuung sowie Pflege der Familienmitglieder kümmern. Sie haben kaum Entscheidungsfreiheit und müssen das Wort des männlichen Familienoberhauptes akzeptieren. Auch wird erwartet, dass sie sich in der Öffentlichkeit mit ihrer Meinung zurückhalten. Sogar in einigen administrativen Vorgängen können Frauen oft nicht selbstständig agieren, sondern sind entweder auf die Begleitung ihres Mannes, eines anderen männlichen Verwandten oder auf eine schriftliche Erlaubnis angewiesen.
Man kann sich vorstellen, in welch prekärer Lage sich Frauen befinden, deren Männer abwandern und das Zuhause für längere Zeit oder gar für immer verlassen. Der Weggang der Männer bringt zudem das Aufbrechen traditioneller Familienmuster mit sich. Viele Frauen müssen zwangsläufig typisch männlich tradierte Rollen einnehmen, um sich und ihre Familien zu versorgen. Mit informellen Kleinstunternehmen jeglicher Art (z. B. Landwirtschaft, Schneiderei, Herstellung von Haushaltsutensilien) sind einige Frauen recht erfolgreich dabei ein kleines Einkommen zu erzielen. Allerdings ziehen sie damit den Unmut vieler Männer auf sich. Den Frauen wird vorgeworfen, respektlos gegenüber den traditionellen Gendernormen zu agieren und sich „unweiblich“ zu verhalten. Oft reagieren auch die Ehemänner mit Unverständnis, die bei Rückkehr oder Besuch als „Versager“ dastehen. Als „Versager“ werden diese Männer wahrgenommen, wenn sie keine oder nur äußerst gering bezahlte Arbeit finden konnten (was leider sehr häufig der Fall ist) bzw. wenn anstatt des Mannes nun die Frau die mehr oder weniger erfolgreiche Rolle der Ernährerin eingenommen hat.
Migration in Simbabwe kann ernsthafte Probleme verursachen, wenn sie Männer davon abbringt ihre zugeschriebenen Rollen als Väter, Ehemänner und Gemeindemitglieder wahrzunehmen. Diese Männer interpretieren die Unfähigkeit, die Erwartungen der Gemeinschaft zu erfüllen, häufig als Verlust ihrer Männlichkeit. Diese Frustration entlädt sich allzu oft in häuslicher Gewalt. Viele Männer sehen emotionale, körperliche und sexuelle Misshandlungen an Frauen und oft auch Kindern, als einzigen Weg, um Macht auszuüben und ihr Ansehen als „echter Mann“ halbwegs wiederherzustellen.
Die sowohl sozialen, als auch psychischen und physischen Auswirkungen dieser Genderstereotype und -normen erhalten den Status quo der Geschlechterungleichheit und der Diskriminierung von Frauen in Simbabwe aufrecht, können jedoch hinterfragt und angefochten werden. Wenn über einen längeren Zeitraum die Rolle der Frau als Familienvorstand und -versorgerin zur gleichberechtigten Norm neben der eines männlichen Familienvorstands und -versorgers wird, besteht die Chance, dass Frauen in der Gemeinschaft ebenso als Versorgerinnen akzeptiert werden wie Männer als Versorger. Dies wird sicher einige Zeit in Anspruch nehmen. Die Änderung von Rollenvorstellungen und Genderstereotypen ist schon immer ein langer Prozess gewesen. Gelingt dies, verringert sich auch das Konfliktpotenzial in Familien und deren Gemeinschaften erheblich. Zugleich werden Gemeinschaften entwicklungsfähiger, wenn auch Mädchen und Frauen ihre Potenziale ausschöpfen und Fähigkeiten entfalten können.
Genderstereotype entstehen aus informellen Systemen wie Traditionen, Werten, Normen und Überzeugungen, die tief in einer Kultur verankert sind. An diesem Punkt setzt die Arbeit von Musasa an. Die Organisation arbeitet mit Gemeinden in Simbabwe zusammen und bietet Workshops und Gemeindedialoge zu den Themen Gewalt gegen Frauen, Geschlechterungleichheit, Rechte von Frauen und Konfliktbearbeitung an. Dies soll das Bewusstsein von Frauen und Männern über die der Geschlechterungleichheit zugrunde liegenden Normen, Stereotype und Praktiken stärken. Außerdem trägt Musasas Arbeit zur Menschenrechtsbildung bei. Es ermutigt Frauen, die durch die Verfassung garantierten Rechte zu kennen und einzufordern. Somit leistet das Projekt einen Beitrag zur gewaltfreien Konfliktbearbeitung und reduziert Konfliktpotenziale sowie Gewalt gegen Frauen. Die Einbeziehung von lokalen Autoritäten spielt dabei eine Schlüsselrolle, um auch sie über Genderstereotype und Rechte von Frauen aufzuklären und sie in ihrer traditionellen Rechtsprechung positiv zu beeinflussen. Wenn der Diskriminierung von und Gewalt gegen Frauen entgegen gewirkt wird, könnte Migration, die momentan negativ mit Not, dem Aufbrechen von Familie und Gewalt belegt ist, auch positive Entwicklungs- und Friedenschancen entfalten.
Die NGO Musasa engagiert sich landesweit gegen geschlechterspezifische Gewalt und bietet ganzheitliche Unterstützung für betroffene Frauen und Mädchen. Musasa unterhält zwölf Frauenhäuser in Simbabwe, in denen von Gewalt betroffene Frauen und Kinder temporär Unterkunft und Schutz finden sowie psychosoziale, juristische, medizinische und sozio-ökonomische Unterstützung erhalten. Außerdem ermutigt Musasa Frauen und Mädchen in den Gemeinden, ihre verfassungsmäßigen Grundrechte wahrzunehmen, sich friedlich in politische Entscheidungsprozesse einzubringen und gleichberechtigt Zugang zu sozialer Grundversorgung und ökonomischen Ressourcen einzufordern. Schlüsselakteure und indirekte Zielgruppe sind Entscheidungs- und Verantwortungsträger, die in Bezug auf ihre Rechte und Pflichten sowie integrative, transparente und partizipatorische Prozesse sensibilisiert werden. Musasa arbeitet mit Unterstützung des Weltfriedendienst e.V. im Buhera-Distrikt in der Provinz Manicaland.
Mit der diesjährigen Ausgabe unseres Themenmagazins KOMPASS „Migration anders denken“ begegnen wir mit „Perspektiven aus dem Globalen Süden“ den unterschiedlichen Facetten von Migration.
Laut der „Internationalen Organisation für Migration“ macht die Süd-Süd-Migration mit mittlerweile mehr als 92 Millionen MigrantInnen den größten Teil der weltweiten Migration aus. Im KOMPASS #6 werfen 12 Beiträge, die unsere SüdpartnerInnen in Afrika, Südamerika und Asien gesammelt und aufgeschrieben haben, ein neues Licht auf die Thematik.
Weltfriedensdienst 15.05.2018
Gepostet in: Der KOMPASS - Das Themenheft des Weltfriedensdienst