Hier finden Sie Informationen zur Preisverleihung 2025.
Fakten zum Friedenfilmpreis
Der Friedensfilmpreis wird seit 1986 jährlich während der Berlinale vergeben – sektionsübergreifend vom Wettbewerb bis zum Kinderfilm. Der Preis ehrt Filmemacher*innen für ein Werk, welches die ästhetischen Mittel des Films in den Dienst des friedlichen Miteinanders und des sozialen Engagements stellt. Oft lenkt er in den Heimatländern der Filmemacher*innen die Aufmerksamkeit auf mutige Menschen, die trotz aller Hindernisse für Frieden und Menschenrechte kämpfen.
Der Friedensfilmpreis wird auf einer öffentlichen Veranstaltung verliehen und ist mit 5.000 Euro und einer Plastik des Künstlers Otmar Alt dotiert. Das Preisgeld stellt die Heinrich-Böll-Stiftung. Träger des Friedensfilmpreises sind die Heinrich-Böll-Stiftung und der Weltfriedensdienst e.V.
Die Jury ist unabhängig, ihr gehören bis zu sieben Menschen an. Die Jury wird vom Trägerkreis jedes Jahr neu berufen. Alle namentlichen Vorschläge werden gemeinsam diskutiert. Bei der Besetzung der Jury wird das Prinzip der Rotation angestrebt: Ein Platz in der Jury kann höchstens drei aufeinanderfolgende Jahre von derselben Person besetzt werden. In der Jury sollen gesellschaftspolitische und filmästhetische Kompetenz zusammentreffen. Bei der Zusammensetzung der Jury achten die Träger besonders auf Vielfalt: Verschiedene Berufe und Herkünfte, verschiedene Geschlechter und Altersgruppen sollen vertreten sein. Weitere Kriterien sind gesellschaftspolitisches Engagement, Filmbegeisterung und -expertise, Friedensengagement und Lust an der Debatte. Ein Platz wird im Sinne der Nachwuchsförderung an eine*n Studierende einer Filmhochschule vergeben. Die Jury erarbeitet ihre Kriterien für den Friedensfilmpreis jedes Jahr aufs Neue. Die Entscheidung der Jury ist unabhängig. Die festliche Verleihung mit der Filmvorführung und Q&A wird von der Heinrich-Böll-Stiftung ausgerichtet.
Preisträger
2024
Favoriten
Dokumentarfilm | Österreich 2024 | 1 Std. 18 Min.
Regie: Ruth Beckermann | Drehbuch: Ruth Beckermann, Elisabeth Menasse | Mit: Ilkay Idiskut
Deutsch, Türkisch, Untertitel: Englisch
Mit dem Friedensfilmpreis der 74. Berlinale wird der Dokumentarfilm „Favoriten“ von Ruth Beckermann aus der Sektion Encounters ausgezeichnet. Im September 2024 startete der Film in den deutschen Kinos.
In der Begründung der Jury heißt es:
„Für ihren Dokumentarfilm „Favoriten“ hat Ruth Beckermann eine Grundschulklasse aus dem gleichnamigen Wiener Bezirk drei Jahre lang begleitet. Wir folgen der engagierten Lehrerin Ilkay Idiskut, wie sie den 25 Kindern ihrer Klasse neben Mathe und Deutsch ein friedliches Miteinander vermittelt. Im Mittelpunkt des Films steht das soziale und interkulturelle Lernen der Kinder, die unterschiedliche Migrationsgeschichten haben. Die Lehrerin versucht mit viel Geduld und Zuneigung zu allen Kindern, wichtige Werte des Miteinanders, der Gleichberechtigung und des Respekts mitzugeben. Eindrücklich zeigt Beckermann, dass Bildungsarbeit Friedensarbeit ist“, so die Begründung der Jury.
Der Friedensfilmpreis gehört zu den unabhängigen Preisen der Berlinale und wird in diesem Jahr zum 39. Mal vergeben. Die Verleihung des Friedensfilmpreises findet am Sonntag, den 25. Februar um 17 Uhr im Hackesche Höfe Kino in Berlin statt.
Lobende Erwähnung
Die Jury des Friedensfilmpreises, spricht zudem eine lobende Erwähnung für den Film „No Other Land“ von Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor aus, „der in einer Zeit, in der Spaltung und Hass vorherrschen, eine Freundschaft zwischen einem palästinensischen Aktivisten und einem israelischen Journalisten in den Mittelpunkt stellt und damit Hoffnung auf eine friedliche Koexistenz macht“.
Die Jury des Friedensfilmpreises 2024
Galina Amashukeli (Medienwissenschaftlerin), Frank Domhan (Geschäftsführer weltfilme.org), Melanie Macher (Kamerafrau), Christian Römer (Veranstalter), Sharon Ryba-Kahn (Filmregisseurin), Muschirf Shekh Zeyn (Filmregisseur) und Ahmet Taş (Drehbuchautor und Regisseur)
Weitere Informationen zur Jury: boell.de/jury
2023
Sieben Winter in Teheran (Seven Winters in Teheran)
Deutschland / Frankreich 2023 | 97 Min.
Regie: Steffi Niederzoll | Mit: Reyhaneh Jabbari, Shole Pakravan, Fereydoon Jabbari, Shahrzad Jabbari, Sharare Jabbari
Farsi, Untertitel: Englisch, Deutsch
Mit dem 38. Friedensfilmpreis der Berlinale wird der Debütdokumentarfilm „Sieben Winter in Teheran“ von Steffi Niederzoll aus der Sektion Perspektive Deutsches Kino ausgezeichnet. Der Film erhielt 2024 außerdem den Deutschen Filmpreis in der Sektion „Bester Dokumentarfilm.
In der Begründung der Jury heißt es:
Die Studentin Reyhaneh Jabbari wurde im Iran zum Tode verurteilt und hingerichtet, weil sie einen Mann bei einem Vergewaltigungsversuch in Notwehr getötet hat. Der Film zeigt ihren Mut und ihre Entschlossenheit, trotz drohender Todesstrafe ihre Aussage nicht zurück zu nehmen. Der Film kritisiert sexualisierte Gewalt gegen Frauen im Iran, das „Recht auf Blutrache“ und die juristische Willkür. Er platziert sich jenseits des Begreifbaren und setzt die Erinnerung gegen das Vergessen. Mit Reyhanehs Briefen und Tagebüchern, die durch den Film leiten, gibt „Sieben Winter in Teheran“ ihrer Stimme eine bleibende Plattform. Dem Film gelingt es, durch die geschickte Montage von authentischem Material eine Nähe zur Figur zu schaffen und den Bogen zu aktuellen Protestbewegungen zu schlagen – nicht nur im Iran.
Die Jury des Friedensfilmpreises 2023
Roshak Ahmad (Medien- und Filmproducerin), Galina Amashukeli (Medienwissenschaftlerin), Antonia Pepita Giesler (Kamerafrau), Andreas Höfer (Kameramann), Christiane Mudra (Regisseurin) und Ahmet Taş (Filmemacher und Autor)
Weitere Informationen zur Jury: boell.de/jury
2022
Sab changa si (All Was Good)
Indien 2022 | 77 Min.
Regie: Teresa A. Braggs
Hindi, Englisch, Kannada, Urdu, Untertitel: Englisch
Der Friedensfilmpreis der 72. Berlinale würdigt den Film „Sab changa si“ der indischen Filmemacherin und Aktivistin Teresa A. Braggs aus der Sektion „Forum Expanded“. Die Jury überzeugte die Kombination aus filmischer Nähe, persönlicher Solidarität und kritischer Reflektion, getragen von sensiblen Portraits junger Menschen auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache während der Studierendenproteste in Bangalore gegen die Verschärfung des indischen Staatsbürgerschaftsgesetzes von 2019.
Begründung der Jury
Mit einem beharrlichen und rohen Blick widmet sich Sab changa si | All Was Good den Studierendenprotesten in Bangalore gegen die Verschärfung des indischen Staatsbürgerschaftsgesetzes von 2019. Der Film begleitet die komplexen Beziehungen der Protestierenden untereinander sowie den mühsamen Weg zur Solidarisierung einzelner Gruppen. Mit kleiner Kamera und geringsten Mitteln zieht uns die indische Aktivistin und Filmemacherin Teresa A. Braggs in das Zentrum der Bewegung hinein und verfolgt die nächtlichen Diskussionen um die Bedingungen von Widerstand. Die Jury überzeugte die Kombination aus filmischer Nähe, persönlicher Solidarität und kritischer Reflektion, getragen von sensiblen Portraits junger Menschen auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache.
Lobende Erwähnung
Europe
von Philip Scheffner (Deutschland)
Mitglieder der Jury 2022: Yulia Lokshina, Gerd Brendel, Peter Steudtner, Jean Peters
2021
Der 36. Friedensfilmpreis konnte im Jahr 2021 auf Grund der Covid-19-Situation leider nicht verliehen werden.
2020
Los Lobos (Die Wölfe)
von Samuel Kishi Leopos (Mexiko)
Begründung der Jury
Aus der Perspektive von zwei Kindern, dem achtjährigen Max und seinem fünfjährigen Bruder Leo, erzählt Samuel Kishi Leopos‘ autobiografisch inspirierter Film „Los Lobos / Die Wölfe“ eine Geschichte von Armut, Heimatverlust und Migration. Das Chaos, in das die Familie durch den Länderwechsel gerät, ordnet die Mutter mit sieben Regeln über das Zusammenleben. Regel 7 lautet: Nach jedem Streit umarmen! Am Ende sind es die Kinder, die auf die Einhaltung dieses friedenspolitischen Imperativs bestehen. Der sensibel und zärtlich erzählte Film schlägt sich radikal auf die Seite der Menschlichkeit. In diesem Film sprechen Kinder zu Kindern und auch die Erwachsenen können nicht anders, als ihnen zuzuhören. Poetisch, mutig und kämpferisch zeigt uns der Film, was es bedeutet, in einem anderen Land eine neue Existenz aufzubauen.
2019
Espero tua (re)volta (Your Turn)
von Eliza Capai (Brasilien)
Begründung der Jury
Der Preisträgerfilm zieht uns in einen hochaktuellen und universellen Konflikt: den Kampf um Bildung für alle. Die gesellschaftliche Emanzipation der jungen Generation steht für die politische Dimension dieses Kampfes. Der im Kollektiv entstandene Film überzeugt durch seine intelligente Montage und seine originelle Erzählform. Die mitreißende Dynamik des Films inspiriert uns selbst gewaltfrei gegen den Missbrauch staatlicher Autorität auf die Barrikaden zu gehen.
Lobende Erwähnung
„System K“
von Renaud Barret (Frankreich)
„Midnight Traveler“
von Hassan Fazili und Emelie Mahdavian mit Nargis Fazili, Zahra Fazili, Fatima Hussaini, Hassan Fazili (USA / Großbritannien / Katar / Kanada)
Mitglieder der Jury 2019: Helgard Gammert, Andreas Höfer, Jean Peters, Lena Müller, Nora Al-Badri, Borbála Nagy, Peter Steudtner
2018
The Silence of Others von Almudena Carracedo und Robert Bahar (USA, Spanien)
Begründung der Jury
Mit dem „Pakt des Schweigens“ wurden 1977 per Gesetz die Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Francistischen Diktatur vom spanischen Parlament amnestiert. Eine kleine Gruppe von Opfern, Überlebenden und Anwält/innen macht sich auf den Weg, durch Aufarbeitung das staatlich verordnete und von der breiten Gesellschaft akzeptierte Vergessen zu durchbrechen. Der Film begleitet die Protagonist/innen im heutigen Spanien, die beharrlich darum kämpfen, das Schweigen zu durchbrechen. Gegen die Macht des Staates und gegen die Macht der Gewohnheit gelingt es ihnen, Gerechtigkeit zu erstreiten“.
Mitglieder der Jury 2018: Peter Steudtner, Matthias Coers, Lena Müller, Helgard Gammert, Burhan Qurbani, Florian Hoffmann, Miraz Bezar
2017
El Pacto de Adriana – Adrianas Pact
von Lissette Orozco (Chile)
Lisette Orozco spürt in El Pacto de Adriana auf packende Weise der Rolle ihrer Tante Adriana in der Diktatur unter Pinochet nach und bricht damit den „Pakt des Schweigens“. Ihr Film hat eine klare Haltung, behauptet aber nicht, die Wahrheit zu kennen. Seine Spannung gewinnt der Film aus den wachsenden Zweifeln an der geliebten Tante. Die Regisseurin geht der Wahrheit auf den Grund und erliegt dennoch nicht der Versuchung, vorschnell zu urteilen. Sie überlässt es den Zuschauern, eigene Schlüsse zu ziehen. Gesellschaftlicher Frieden beginnt mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Diese sehr persönliche und schmerzliche Auseinandersetzung mit ihrer Familie und der Geschichte Chiles beweist außergewöhnliche Courage.
Mitglieder der Jury 2017: Miraz Bezar, Till Passow, Helgard Gammert, Teboho Edkins, Ulrike Gruska, Yael Inokai, Burhan Qurbai
2016
Makhdoumin – A Maid for Each
von Maher Abi Samra (Libanon, Frankreich, Norwegen, Vereinigte Arabische Emirate)
Begründung der Jury
Der Film öffnet die Türen zu einer Agentur, die im Libanon weibliche Hausangestellte vom internationalen Markt vermittelt. Ein Film, der zeigt, wie Menschen als Ware gehandelt werden. Er schärft auf subtile Weise den Blick für ein System der Entrechtung, in dem Frauen rund um die Uhr folgsam und unsichtbar ihren Dienst verrichten müssen. Makhdoumin mahnt, ein System in Frage zu stellen, das den einen Vorteile bringt, während es anderen ihre Würde und Freiheit nimmt.
Mitglieder der Jury 2016: Matthias Coers, Teboho Edkins, Helgard Gammert, Ulrike Gruska, Michael Kotschi, Lena Müller, Yael Reuveny
2015
The Look of Silence
von Joshua Oppenheimer (Dänemark / Norwegen / Finnland / Indonesien / Großbritannien 2014
Begründung der Jury
Mehr als eine Million Menschen wurden in Indonesien nach dem Militärputsch von 1965 grausam und willkürlich umgebracht. Verbrechen, die nie aufgearbeitet noch geahndet wurden. Über die Täter drehte Joshua Oppenheimer bereits den preisgekrönten Dokumentarfilm „The Act of Killing“. In seinem neuen Film „The Look of Silence “ wechselt er die Perspektive. Adi, der Bruder eines der Ermordeten, sucht den Kontakt mit den Tätern und befragt sie zu ihren Taten. Oppenheimer gelingt es auf ergreifende Weise, ein gesellschaftliches Tabu aufzubrechen. Entstanden ist ein Film über die Abgründe menschlicher Grausamkeit und über die hoffentlich ebenso große Fähigkeit zur Versöhnung. Die tödliche Stille lässt sich durch Nachfragen überwinden. Das öffnet Opfern und Tätern die Chance zum Weiterleben in einer versöhnten Welt. Das ist eine einfache, aber so sehr wichtige Botschaft des Films.
Mitglieder der Jury 2015: Andreas Altenhof, Helgard Gammert, Claudia Gehre, Anna Sofie Hartmann, Michael Kotschi, Lena Müller, Katrin Schlösser, Ruth Marianne Wündrich-Brosien, Martin Zint
2014
We Come as Friends
von Hubert Sauper (Frankreich, Österreich)
Begründung der Jury
Der österreichische Filmemacher Hubert Sauper fliegt mit einem selbstgebauten Kleinflugzeug nach Afrika, ins Epizentrum eines Konfliktes: in den Sudan. Bei jeder seiner vielen Landungen begegnet er Menschen, die Akteure in einer für den Kontinent exemplarischen Situation sind. Was zunächst interventionistisch erscheint wird zu einem wichtigen künstlerischen Mittel, das überraschende Einblicke gewährt. Alle sind Aliens: der amerikanische, evangelikale Pastor, die chinesischen Ölproduzenten und der Filmemacher selbst. Sie treffen auf lokale Eliten die auf ausländische Investitionen hoffen. Und auf Sudanesen die unter teils erschreckenden Bedingungen leben. Der Detailreichtum des Films macht neugierig, auch weil der Film zeigt, dass die Fehler der kolonialen Vergangenheit wiederholt werden. Er kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, an dem Afrika von der deutschen Außen-und Sicherheitspolitik wieder entdeckt wird. Die „Freiheit“ wird bald nicht mehr nur am Hindukusch verteidigt, sondern auch jenseits der Sahara. Und damit auch der Zugang zu Rohstoffen: „We Come As Friends“.
Mitglieder der Jury 2014: Claudia Gehre, Andreas Altenhof, Helgard Gammert, Elias Gottstein, Michael Kotschi, Till Passow, Katrin Schlösser, Marianne Wündrich-Brosien, Martin Zint
2013
A World Not Ours
von Mahdi Fleifel (Libanon / Großbritannien / Dänemark 2012)
Begründung der Jury
Der dänisch-palästinensische Regisseur Mahdi Fleifel stammt aus dem Flüchtlingslager Ain el-Helweh, einem der ältesten im Süd-Libanon. Sein Vater und er dokumentieren mit der Kamera das Leben der Familie und des Lagers, mit liebevollem Blick und Humor – über dreißig Jahre hinweg. Deutlich wird die zermürbende Situation der Menschen ohne Hoffnung und Zukunft im Lager, das zu einer Insel der Isolation wird. Aus Fleifels Erinnerungen entsteht ein dichtes Bild vom Leben im Niemandsland. Der Film befreit sich völlig von den üblichen Schemata der Einordnung der Konflikte zwischen Israelis und Palästinensern. So wird er zu einem Plädoyer für einen neuen Friedensprozess im Nahen Osten. Immer mehr Menschen leben über längere Zeiträume in den Flüchtlingslagern unserer Erde. Sie hoffen immer noch auf ein Leben in Würde und darauf in ihre Heimat zurückkehren zu können.
Mitglieder der Jury 2013: Christoph Heubner, Mehdi Benhadj-Djilali, Martin Zint, Marianne Wündrich-Brosien, Helgard Gammert, Claudia Gehre, Pary El-Qalqili, Monica Puginier, Sobo Swobodnik
2012
Czak a Szel – Just the Wind
von Bence Fliegauf (Ungarn, Deutschland, Frankreich)
Begründung der Jury
Ausgehend von einer realen Mordserie an Roma in Ungarn, erzählt der Film „Just the Wind“ einen Tag im Leben einer Roma Familie, vierundzwanzig Stunden der Angst vor der Gewalt, die sich das nächste Opfer sucht. In unvergesslichen Bildern zeichnet der Regisseur den Wendekreis der Angst, in dem die Roma leben, immer auf der Flucht, immer in Erwartung der nächsten Demütigung, immer in der Not, lieber unsichtbar und schutzlos, als sichtbar und ausgeliefert zu sein. Dabei gelingt es dem Regisseur mit einem beeindruckenden Ensemble aus Laien-Darstellern die von Mythos und Ressentiment besetzten Bilder von Roma zu unterwandern. Es gelingt ihm seine Figuren in all ihrer Gebrochenheit und Individualität zu zeigen. „Csak a szel“ schafft Bilder, die in ihrer ästhetischen Genauigkeit und humanistischen Tiefe nachhaltig beeindrucken: wie der Sohn den Leichnam des toten Schweins beerdigt, das der am Vortrag ermordeten Familie gehörte, weil es das einzige ist, was er tun kann, wie die Tochter die Vergewaltigung einer Mitschülerin beobachtet und nicht einschreitet, sondern sich abwendet mit einem Blick, der sich erinnert, der weiß, dass es sie selbst sein könnte, und wie dieselbe Tochter das Kind einer verwahrlosten Familie von ihrer betrunkenen Mutter und dem dahindösenden Vater mit zum Baden nimmt, ein kurzer Moment des Glücks, der nur wie ein Aufschub des Schrecklichen wirkt, das folgt. Der Regisseur Bence Fliegauf romantisiert die Roma und ihre Lebenswelt nicht, sondern er zeichnet mit traurigem Ernst die Welt der Schutzlosen, die mit uns leben, und deren Alltag im Europa des 21. Jahrhunderts immer noch von Ressentiment, Tabus und Gewalt bestimmt ist.
Mitglieder der Jury 2012: Mehdi Benhadj-Djilali,Sung-Hyung Cho, Carolin Emcke, Helgard Gammert, Christoph Heubner, Till Passow, Monica Chana Puginier, Burhan Qurbani, Marianne Wündrich-Brosien
2011
Jutro bedzie Lepiej – Morgen wird es besser
von Dorota Kedzierzawska (Polen, Japan)
„Der Himmel sieht genauso aus wie unserer.“ „Quatsch, er ist vollkommen anders. Und ab jetzt ist es unser Himmel. Irgendwann kommen wir wieder zurück.“ „Wirklich? Wie denn?“ „Wir kommen als Könige zurück.“ Sie sind keine Ausreißer: Lyapa, Vasja und sein kleiner Bruder Petya. Niemand vermisst sie, wo sie bislang lebten. Waisenkinder lassen keine sorgenvolle Mutter zurück. In ihren Kinderseelen haben sie die Hoffnung auf ein besseres Morgen. Diese Hoffnung treibt sie an. Bei ihren langen Fußmärschen über Gleise, die kein Ende zu haben scheinen. Durch den dichten Wald. Eine Marktfrau steckt Petya, dem Jüngsten, ein Stück Brot zu – weil sie sein zahnloses Lachen rührt. Die vorbeifahrende Hochzeitsgesellschaft gibt ihnen Wodka aus. So schlagen sie sich durch. Dort, wo sie hingehen, wartet ein besseres Leben auf sie, bestimmt.
Begründung der Jury
Der Film „Morgen wird alles besser“ („Jutro Bedzie Lepiej“) der polnischen Regisseurin Dorota Kedzierzawska erzähle „mit eindringlichen und poetischen Bildern […]dieses so bittere Märchen unserer heutigen Realität“ – so begründet die Jury ihre Entscheidung, dem Film aus der Sparte Generation Kplus den diesjährigen Friedensfilmpreis der Berlinale zu verleihen. „Mit den Augen der Kinder entlarvt sie die harte Welt der Erwachsenen und der von ihnen gezogenen Grenzen.“ Dorota Kedzierzawska erzählt ihren Film nach einer wahren Begebenheit. In einem Interview mit dem Online-Portal „Junge Journalisten“ sagt sie: „Diese Geschichte ist eine Geschichte von zwei Brüdern, die Straßenkinder in Russland waren. Ich habe dazu eine Radiosendung in Polen gehört, wo Leute eingeladen wurden anzurufen und sich zu der Geschichte zu äußern. Leider ist es geschehen, dass die Hälfte der Anrufer für die Abschiebung der Jungen waren, was mich sehr empört hat. Von dem Moment an habe ich mich entschlossen, über diese Geschichte einen Film zu machen.“
2010
Son of Babylon
von Mohamed Al Daradji (Irak, Großbritannien, Frankreich, Niederlande, Palästina)
Begründung der Jury
Ein kurdischer Junge aus dem Norden Iraks auf der Suche nach seinem Vater, der nicht aus dem Krieg zurückgekehrt ist: Die Großmutter begleitet den Enkel auf seiner Reise in den Süden des Landes: Schwer lasten auf ihr die Erinnerungen – an die Gasangriffe, an die Toten des Krieges, an die Leere der Welt nach dem Krieg. Sie hofft immer wieder und immer noch, den Sohn zu finden und dem Enkel den Vater zurückgeben zu können: Schwer ist die Reise für die alte Frau, schwer trägt sie an ihrer Verantwortung – neugierig schaut Ahmed, der Junge, auf die zerbombte Welt, die dennoch mit jedem Tag der Reise für ihn größer und reicher wird. Doch es gibt Menschen, die beiden helfen die Entfernungen und die Mühen zu überstehen. Helfen will vor allem ein Mann, der als Soldat der Republikanischen Garde im Norden des Landes an den Angriffen auf die Zivilbevölkerung beteiligt war: Ein Täter, der sich der alten Frau offenbart, die ihn daraufhin zornig davon jagt. Und doch begleitet er sie bis zum Ende der Reise – zu den Leichenfeldern in denen wahrscheinlich auch Ahmeds Vater verscharrt ist. Ein Film über Schuld, Wahrheit, Reue und Vergebung und über die Stärke der Großmütter, die die ganze Welt in ihren Händen halten: Eine lange Reise.
2009
The Messenger – Die letzte Nachricht
von Oren Moverman (USA)
Traumatisiert kehren Soldaten von den Schlachtfeldern dieser Tage, die sich hinter Begriffen wie „Enduring Freedom“ verstecken, zurück: Der Krieg kommt näher und auch die Todesnachrichten mehren sich. Den „schlimmsten Job der Army“ muss Will nach seiner Rückkehr aus dem Irak übernehmen. Er wird zum „Messenger“, der diese Todesnachrichten überbringt: soldatisch, korrekt, präzise und distanziert. Höflichkeit statt Mitleid – so bricht diese Nachricht vom Tod an den Fronten des Krieges in die patriotische Alltagswelt voller grüner Wiesen und gewaschener Wäsche ein. Wills Geschichte, die Welt der Armeen und die Wahrheit, dass Krieg deformiert und Menschen hilflos und auf immer verletzt zurücklässt – dies erzählt der Film von Oren Moverman mit großer subversiver und erzählerischer Kraft: ein Anti-Kriegs-Film zur rechten Zeit.
2008
Buda as sharm foru rikht- – Buddha zerfiel vor Scham
von Hana Makhmalbaf (Iran, Frankreich)
Bakthay ist ein kleines Mädchen in den Bergen Afghanistans. Unbedingt will sie in die Schule und Lesen lernen – die Welt ist voller Geschichten. Doch ohne Heft und Stift kein Schulbesuch. Also Eier gegen Brot eintauschen, Brot verkaufen und endlich ein Heft für die Schule besitzen. Zum Schreiben gibt es den Lippenstift der Mutter. Alles könnte jetzt gut sein für Bakthay –aber die Realität hält kein Happy End für dieses kleine Mädchen und seinen Hunger nach Bildung und Geschichten bereit: Auf dem Weg wird sie von Jungen, die Taliban spielen, als Geisel genommen. Erschreckende Szenen: Kinder die das spielen, was sie von den Erwachsenen gelernt haben: Gewalt, Demütigung und Zerstörung. Ein tragischer Film über zerstörtes Leben und missachtete Menschenrechte, worunter vor allem die Kinder leiden. Aber auch ein Film, in dem die kleine Bakthay auf ihren kurzen Beinen den weiten Weg zur Schule läuft und leuchtet wie ein heller Stern.
2007
Goodbye Bafana
von Bille August (Deutschland/Frankreich/Belgien/Großbritannien/Italien/Republik Südafrika)
Begründung der Jury
Hineingeboren in das System der Apartheid, die er als vernünftig und gottgegeben mitträgt, sucht der Gefängniswärter James Gregory nach bürgerlicher Sicherheit in seiner Familie und nach beruflicher Karriere: Überzeugt von der Grausamkeit der Schwarzen und ihren Absichten, die Weißen aus Südafrika verjagen zu wollen, wird er in einer neuen Aufgabe als Zensor mit dem Häftling Nelson Mandela und dessen Mitgefangenen auf der berüchtigten Gefängnisinsel Robben Island konfrontiert. Beeindruckt von der Gedankenwelt und der Menschlichkeit Mandelas und der brutalen Gewalt, der die Häftlinge tagtäglich ausgesetzt sind, beginnt im Kopf und im Herzen James Gregorys ein Prozess der Veränderung, der ihn und seine Familie vor existentielle Herausforderungen stellt. Ein Film, der auf einer wahren Geschichte beruht und uns zeigt, dass auch im starrsten System und unter großem Druck Zivilcourage wachsen kann, die aus einem Mittäter einen selbstständig denkenden und handelnden Menschen werden lässt: eine Ermutigung.
2006
Grbavica (Esmas Geheimnis)
von Jasmila Žbanić (Österreich/Bosnien und Herzegowina/Deutschland)
Begründung der Jury
Die Erinnerung hinter sich zu lassen und ihrer Tochter ein „normales“ Heranwachsen zu ermöglichen, ist das Ziel einer Mutter im vom Krieg gezeichneten bosnischen Sarajewo. Aber beider Leben ist von einem furchtbaren Geheimnis überschattet, das das Verhältnis von Mutter und Tochter fast zerstört. Der Erinnerung jedoch können beide nicht ausweichen: Als die Tochter die Frage nach ihrem Vater mit immer größerer Wut stellt, muss sich auch die Mutter der Wahrheit ihrer Kriegserlebnisse stellen und ihre Tochter damit konfrontieren: Eine Wahrheit, an der beide nahezu zerbrechen.
Ein sensibler und aufwühlender Film über die Folgen des Krieges und den Versuch, durch das Aussprechen der Wahrheit einen neuen Anfang zu erkennen, an dessen Horizont Hoffnung und Lebensmut aufscheinen. Die Regisseurin erzählt in ihrem ersten Spielfilm die bedrückende Geschichte mit großer künstlerischer Souveränität und berührt ihr Publikum tief.
2005
Lakposhtha hâm parvaz mikonand (Turtles can fly)
von Bahman Ghobadi (Iran/Irak)
Begründung der Jury
Ein kurdisches Flüchtlingslager im Grenzgebiet zwischen Irak und Iran:Die Menschen leben in großer Armut, die Felder sind vermint – eine ständige Bedrohung für die Kinder und die Erwachsenen. Die Kinder verdienen sich ein paar Groschen beim Minenräumen, viele von ihnen sind für ihr Leben verstümmelt und dennoch spielen sie ihre Kindheit. Ein Film des Schmerzes und der Verstörung, der die Zukunft der Kinder in allen Kriegsgebieten mit erschreckender Deutlichkeit zeichnet. Obwohl sich die Kinder umeinander kümmern und im Flüchtlingslager ihre eigene parallele Welt entsteht, zeigt Bahman Ghobadi die Folgen des Krieges – Elend und die Auflösung aller Strukturen – mit Bildern, die nicht aus dem Kopf gehen.
Verleih: Mitos Film
2004
Svejdoci
von Vinko Brešan (Kroatien)
Begründung der Jury:
Eine kroatische Kleinstadt im Kriegsherbst 1992: Mit dem nächtlichen Mord an einem serbischen Zivilisten beginnt die Filmerzählung um die Deformierung der Bewohner durch Abgrenzung und Gewalt, in der man zum Ende Täter und Opfer kaum noch zu unterscheiden vermag. Ein „Nachkriegsfilm“, der Würde und Schuld der Menschen nicht trennt und uns vor Augen führt, wie dünn die Haut zwischen Krieg und Frieden in Europa immer noch ist.
Der Regisseur Vinko Brešan erzählt seine Geschichte und die seiner Protagonisten beeindruckend und atemlos. Wie bei einer Matruschkapuppe taucht hinter jeder Figur eine neue Geschichte auf, verschafft ihr Raum, Tiefe und Geheimnis. Die Existenz dieses Filmes und sein Entstehen beendet die Sprachlosigkeit des Nachkrieges und ermöglicht Dialog, Kontroverse und Hoffnung.
Verleih: Celluloid
Lobende Erwähnung für:
Die Optimisten – Die Geschichte der Rettung der Juden Bulgariens
von Jacky Comforty (USA/Deutschland/Israel)
2003
In this World
Michael Winterbottom (Großbritannien)
Begründung der Jury
Den Friedensfilmpreis 2003 erhält Michael Winterbottom für seinen Film „In this World“. Der Film schildert das Schicksal zweier Migranten, die dem Elend der Flüchtlingslager im Grenzgebiet von Afghanistan und Pakistan entfliehen und in Westeuropa Schutz finden wollen. Winterbottoms Spielfilm schildert hautnah mit quasi dokumentarischen Mitteln die entwürdigenden, gefährlichen und oft auch tragisch endenden Etappen ihres Weges und erreicht dabei eine Eindringlichkeit und Authentizität, die bisher im internationalen Kino nicht ihresgleichen hat. Der Film schafft es, uns die Hauptfiguren nahe zu bringen, ohne jemals in Sentimentalität zu verfallen. Den Flüchtlingen wird trotz des Elends ihre Würde gelassen. Der Film rührt uns, ohne sich anzubiedern, er informiert uns, ohne jemals didaktisch zu werden. Wenn im Film Zeichen von Menschlichkeit gesetzt werden, geschieht das mit einer intensiven, aber auch immer nüchtern distanzierten Aufmerksamkeit. Wo viele in unserem Land Grenzen errichten oder ausweiten wollen, da fordert dieser Film dazu auf, Ablehnung und Angst zu überwinden. Anstatt sie als Wirtschaftflüchtlinge zu stigmatisieren, werden Flüchtlinge als das angesehen, was sie gerade heute allzu oft sind: Opfer des Krieges, die ihr Recht auf ein menschenwürdiges Leben wahrnehmen wollen. Wer diesen Film gesehen hat, wird Migranten mit anderen Augen sehen.
Verleih: Arsenal Filmverleih, Hintere Grabenstr. 20, 72076 Tübingen
2002
August – A Moment Before the Eruption
von Avi Mograbi (Israel/Frankreich)
Avi Mograbi: “Ich wollte einen Film schaffen, der nur aus Gewalt, Zänkerei und Ärger besteht. Denn das ist Israel.” Der Monat August dient ihm dabei als Metapher für alles Verabscheuendswürdige in Israel: Gewalt, Tod, Wut. Vor dem Hintergrund der aktuell dramatischen Zuspitzung des israelisch-palästinensischen Konflikts bekommt Mograbis Film eine besondere Brisanz.
Begründung der Jury
Ironisch und selbstironisch schafft Avi Mograbi ein filmisches Bild seines Landes, indem er satirisch-theatralische Szenen mit dokumentarischen Alltagsbeobachtungen verbindet. So gelingt ihm das irrwitzige Bild einer Zeit ‘kurz vor der Eruption’. Seine filmische Sprache ist schillernd und neurotisch wie die Gesellschaft, die er vorfindet.
2001
Vivre Après – Paroles des Femmes (Das Leben danach – Worte von Frauen)
von Laurent Bécue-Renard (Frankreich)
Wie soll jemand überleben, dessen Welt zerbrochen ist, ohne Ehemann, Vater, ohne Söhne, ohne die Männer der Familie? Dessen Haus, dessen Acker, dessen Dorf, dessen Land vom Krieg weggefegt wurde? Vor dieser Frage stehen zahllose bosnische Frauen und Kinder nach Ende des Bürgerkrieges. Der Film begleitet 3 Frauen während eines Jahres im Therapiezentrum Vive Zene in Tuzla.
Begründung der Jury
Sedina, Jasmina und Senada aus Bosnien ermöglichen uns einen Einblick in die über Generationen andauernden Folgen von Kriegsleiden. Sie zeigen uns, wie das Erinnern von unerträglichen seelischen Schmerzen die einzige Möglichkeit ist, weiter leben zu können. Der Film beobachtet ein Jahr lang die Traumabearbeitung von Frauen in Bosnien. Sie kommen aus Flüchtlingslagern, um ein Jahr lang in einem geschützten Haus die Ermordung ihrer engsten Verwandten aufarbeiten zu können. Ungewöhnlich ist, dass uns dieser Film den schmerzhaften Prozess des Erinnerns miterleben lässt. Wie die Therapeutin und die Kamera die Trauer dieser Frauen begleiten und ihr raumgeben, ist zukunftsweisend und beispielhaft. Beeindruckend ist der lange Atem des Filmemachers, die Integration der anteilnehmenden Kamera von Beginn an in den therapeutischen Prozess, die dem Betrachter die Möglichkeit gibt, das Schicksal der Frauen nachzuvollziehen.
Verleih: Laurent Bécue-Renard, 108 Rue du Bac, F-75007 Paris
2000
Long Night`s Journey into Day
von Frances Reid und Deborah Hoffmann (USA)
Mehr als vierzig Jahre lang herrschte in Südafrika die berüchtigtste Form von Rassenunterdrückung seit dem deutschen Nationalsozialismus. Als das Regime 1990 zusammenbrach, forderten jene, die die Herrschaft der Apartheid unterstützt hatten, Straffreiheit für ihre Verbrechen. Ihre Opfer aber forderten Gerechtigkeit. Als Kompromiss wurde die „Truth & Reconciliation Commission (TRC)“ gegründet, die seitdem Opfer und Verfolger zusammenbringt und damit die südafrikanische Öffentlichkeit ihre Geschichte noch einmal durchleben lässt.
Begründung der Jury
Dieser Film zeigt Südafrika als ein Land, dessen Düsternis vom Gestern ins Heute hineinreicht und zahlreiche Schicksale vernichtet, zerrissen, auf immer geprägt hat. Indem der Film Menschen porträtiert, die sich aus unterschiedlichen Gründen ihrer individuellen Schuld und Verantwortung stellen, schafft er ein Verständnis für die Widersprüche des Lebens, die jenseits der politischen Bedeutung des Themas liegen. Vielmehr rührt dieses vielschichtige Portrait an die existentiellen Fragen des Menschen, die im Zuschauer tiefe Erschütterung und Irritation hervorrufen, aber auch Hoffnung wecken. Nicht zuletzt die Brillanz der filmischen Mittel, die Montage, die Musik, die Kameraarbeit verdichten diesen herausragenden Dokumentarfilm zu einem großen, bewegenden Erlebnis.
Verleih: Telepool GmbH, Sonnenstraße 21, 80331 München
1999
Günese Yolculuk (Reise zur Sonne)
von Yeşim Ustaoğlu (Türkei)
Schauplatz Istanbul: Mehmet hat einen Job beim Wasserwerk und ist verliebt in Arzu, die in einer Wäscherei arbeitet. Berzan hofft, als Straßenhändler genug zu verdienen, um mit der fernen Verlobten in seinem Dorf in Ost-Anatolien ein Haus bauen zu können. Die beiden jungen Männer werden Freunde, wobei es für Mehmet keine Rolle spielt, dass Berzan Kurde ist. Als Berzan bei einer Polizeiaktion ums Leben kommt, entschließt sich Mehmet, Berzans Sarg in dessen Heimat zu bringen.
Begründung der Jury
Der Film erzählt uns auf sensible Weise eine Liebesgeschichte und eine Geschichte der Freundschaft, die archaische Züge trägt. Sie ist eingebettet in die politisch brisanten Verhältnisse in der Türkei. Die Regisseurin nähert sich den völkerrechtlichen Konflikten, ohne ideologisch Stellung zu nehmen. Mit einer großen Liebe zu ihrem Land gelingt es ihr, differenziert die staatliche Repression zu zeigen, dies aber ohne voyeuristische Gewaltdarstellung. Yesim Ustaoglu vermittelt die politische Problematik, indem sie uns einzelne Menschen nahebringt. Entgegen unserer Klischeevorstellung, dass islamische Frauen nur unterdrückt seien, sehen wir hier starke und richtungsweisende Frauen, trotz offensichtlicher Ängste. Gleichzeitig werden uns Prozesse gesellschaftlicher Ausgrenzung gezeigt, die auf exemplarische Weise über die türkische Gegenwart hinausreichen. Eine Stärke des Films liegt darin, die sonst üblichen Polarisierungen zu vermeiden. Die Regisseurin bietet uns keine einfachen Lösungen an und sensibilisiert uns für die Brisanz der Menschenrechtsverletzungen in der Türkei.
Verleih: Pegasos Filmverleih und Produktion GmbH, Ebertplatz 21, 50668 Köln
1998
W toj stranje (In jenem Land)
von Lidija Bobrowa (Russland)
Begründung der Jury
Ein Film der Hoffnung in unserer Welt der Konsumabhängigkeit. Er gibt uns die Möglichkeit, Illusionen anzunehmen und Sehnsüchte auszuleben. Denn ein Kunstwerk hat das Recht, ein Märchen zu erzählen. Wir erleben einen Humor und Dialoge, die uns in ihrer Glaubwürdigkeit überzeugen. Lidija Bobrowa gelingt mit präziser Beobachtungsgabe ein wunderbares Zusammenspiel von Laien und Schauspielern. Der Film ist ein Plädoyer für Toleranz und Aufmerksamkeit unter uns Menschen.
1997
Die Jury vergibt den Friedensfilmpreis der 47. Internationalen Filmfestspiele Berlin, der von der Heinrich-Böll-Stiftung mit 8.000,- DM und einer Kleinplastik des Berliner Künstlers Otmar Alt bedacht wurde.
Nach Saison
von Mirjam Quinte und Pepe Danquart (Deutschland)
Mostar, Sommer 1994. Der jugoslawische Bürgerkrieg hat die Stadt zerstört und zerrissen. Wo sich früher die Nationalitäten mischten, teilt eine Demarkationslinie Mostar in zwei Hälften. Im Osten Muslime, im Westen Kroaten, dazwischen ein Übergang, den die Leute „Checkpoint Charly“ nennen. Die Verwaltung der Stadt wird von Hans Koschnick geleitet. Der deutsche Politiker wurde von der Europäischen Union als Administrator eingesetzt, und die Filmemacher begleiten ihn während seiner fast zweijährigen Amtszeit. Der Film zeigt den Versuch, die Bewohner Mostars miteinander auszusöhnen und die Stadt wieder aufzubauen.
Begründung der Jury
Mostar hatte seine journalistische Saison bis zur Abreise des EU-Administrators. Wie schnell wechseln unsere mediengeprägten Meinungen über das ehemalige Jugoslawien? Der offizielle Krieg ist vorüber. Mostar aber bleibt eine Stadt der Teilung und Vertreibung. „Nach Saison“ lässt uns lange nach den aktuellen Ereignissen Raum, ein eigenes Urteil zu bilden. Der Film gibt uns Zeit, zuzusehen und zuzuhören. Er zeigt uns beeindruckende Menschen, wie sie den Nach-Krieg überleben und die Schäden, die ihnen der Krieg zugefügt hat. Mirjam Quinte und Pepe Danquart strukturieren ihr Material mit den Mitteln des klassischen Dokumentarfilms: hervorragende Schwarz-Weiß-Bilder, strenge Montage, sparsamer Kommentar, musikalische Akzente, leitmotivische Bilder des Fotografen. Über die Figur des EU-Administrators Hans Koschnick und eine sich gegen ihn stellende europäische Politik berichtet dieser Film auch vom Scheitern einer gemeinsamen europäischen Friedensstrategie. Der Film sensibilisiert uns für die Vorgänge, deren Zeugen die Dokumentaristen zwei Jahre lang für uns waren. Er ist eine Aufforderung an die Medienmacher, verantwortlicher zu berichten und an jeden Zuschauer, wachsam zu sein.
Verleih: Ventura Film GmbH, Rosenthaler Straße 38, 10178 Berlin
Lobende Erwähnung für:
Ein gewöhnlicher Präsident
von Jurij Chaschtschewatskij (Weißrussland)
1996
Devils Don’t Dream
Nachforschungen über Jacobo Arbenez Guzmán
von Andreas Hoessli (Schweiz)
Der Film ¡Devils Don’t Dream! kreist um die Person, den Menschen, den „Staatsmann“ Jacobo Arbenz Guzmán. Ein Film, der Zerrissenes in Fragmenten erzählt. Er lässt Personen und Bilder für sich sprechen; Bilder, die wieder auftauchen und in anderen Zusammenhängen anderes aussagen. Der Film zieht Kreise um Fragen der Kolonisation, des Glaubens, der Macht. Worte und Bilder aus verschiedenen Zeiten, die elliptisch immer wieder auf Jacobo Arbenz zurückführen – und auf die erfolgreiche Verdrängung aus der Geschichte.
Begründung der Jury
Am Anfang nur wenige Archivbilder aus einer fernen Zeit. Guatemala vor mehr als 40 Jahren. Der Beginn einer Reise an einen fernen Ort, die Suche nach einem Leben, nach den Spuren, die von diesem Leben bleiben. Die Utopien eines Politikers, seine Hoffnungen. Jacobo Arbenz Guzmán, der von 1950 – 1954 als gewählter Präsident Guatemalas den „ersten Akt der Gerechtigkeit“ – eine Landreform – versuchte, sollte nach seinem Sturz aus der Geschichte seines Volkes getilgt werden. Der Film macht Bilder und Worte zugänglich, die verboten, zerstört und vergessen gemacht wurden. Er ist Teil des Versuchs, für Guatemala diese Epoche seiner Geschichte wiederzugewinnen. Andreas Hoessli gibt nicht vor, die Wahrheit über Ereignisse zu wissen, die mehr als vierzig Jahre zurückliegen. Seine Form der filmischen Rekonstruktion der Ära Arbenz durch Gespräche und Bilder vom „ewigen Krieg“ im heutigen Guatemala der Militärs, wiedergefundenes Bildmaterial und Dokumente aus US-Medien erlaubt uns, selbständig die Diskrepanz zwischen realen Machtverhältnissen und behaupteter Demokratie an einem exemplarischen Beispiel zu erkennen. – Auch eine Hoffnung für den unabhängigen Film.
Kontakt: Espaces Film, Akazienstraße 2, CH-8008 Zürich
1995
Er nannte sich Hohenstein / Drei Frauen aus Poddembice
von Hans-Dieter Grabe (Deutschland)
Hans-Dieter Grabe nennt seine Arbeit einen Nachdenkfilm über einen deutschen Funktionsträger im besetzten Polen 1940 bis 1942, der glaubt, dort Karriere machen zu können, ohne sich als primitiver und gewaltverherrlichender Nazi zu gebärden.
Der Epilog enthält Gespräche mit drei Frauen, die zur Zeit des Tagebuchs im Handlungsort Poddembice / Warthegau gelebt haben und sich heute in Deutschland an einige Ereignisse erinnern, die der Hauptfilm behandelt.
Begründung der Jury:
Ein Deutscher, der 1940 als Amtskommissar im besetzten Polen Bürgermeister wird, begegnet uns als Person im Zwiespalt zwischen behaupteter humanistischer Bildung und Machtausübung. Die Sprache in seinem Tagebuchtext gibt Auskunft über die Verdrängung der national-sozialistischen Verbrechen.
Der Film zeichnet ein differenziertes Bild vom alltäglichen Faschismus, eines deutschen Beamten, der glaubt, sich durch Wegschauen und Verdrängen der Verantwortung für den Vollzug von Gräueltaten entziehen zu können.
Gerade die formale Beschränkung und der konsequente Umgang mit den filmischen Mitteln gibt dem Zuschauer Gelegenheit, über sein eigenes Verhalten hier und heute nachzudenken.
Kontakt: ZDF-Nichtgewerblicher, Programmvertrieb, Postfach 40 40, 55100 Mainz
1994
God Sobaki (Das Jahr des Hundes)
von Semjon Aranowitsch (Rußland/Frankreich)
Ein zu Gewalttätigkeit neigender Ex-Häftling und eine einsame, nicht mehr ganz junge Frau sind die Hauptfiguren in Semjon Aranowitschs ungewöhnlicher Liebesgeschichte. Hintergrund ist die Tristesse eines Landes mit verlorener Identität. Am Anfang steht ein Mord: Der gerade aus langer Lagerhaft entlassene Kriminelle Sergej (Igor Skjar) verteidigt seine Freundin Vera (Inna Tschurikova) und ersticht einen Mann. Das ungleiche Paar flieht und findet in einem menschenleeren Dorf Unterschlupf. Doch die Idylle täuscht: Die Gegend ist strahlenverseucht. Aranowitsch wurde im Westen vor allem durch radikal antistalinistische Dokumentarfilme und bereits in sowjetischer Zeit durch Spielfilme wie TORPEDOBOOTE und Fernsehfilme bekannt. In GOD SOBAKI zeichnet er eine vielschichtige, mit lyrischen und ironischen Tönen durchbrochene Liebes- und Kriminalgeschichte mit tieferer, sozialkritischer Bedeutung.
Begründung der Jury
Der vielschichtige und poetische Film erzählt eine Geschichte von Humanität in extremen Widersprüchen. Er beschreibt die in ihrer Existenz bedrohte Welt und die vom Menschen ausgehende, am Menschen ausgeübte Gewalt und Zerstörung. Durch außerordentliche schauspielerische Leistungen, feinfühlige Bilder und eine virtuose Inszenierung werden uns zwei Schicksale nahegebracht, die uns in ihrer starken Individualität berühren.
Verleih: Filmverlag der Autoren, Rambergstr. 5, 80799 München
Balagan
von Andres Veiel (Deutschland)
Balagan – hebräisch für das Chaos in Kopf und Bauch – zeigt zwei jüdische und einen palästinensischen Schauspieler aus Israel, die seit 9 Jahren zusammenarbeiten. Zuletzt haben sie das auch in Deutschland gefeierte und umstrittene Theaterstück ARBEIT MACHT FREI entwickelt, in dem sie die erdrückenden politischen Probleme aufarbeiten, in die die Geschichte sie gestellt hat: der Schatten des Holocaust, aus dem sie heraustreten wollen; der Konflikt zwischen Israelis und Arabern; die Position der orthodoxen Juden. Die Arbeit bedeutet für die Darsteller in einem Land im Kriegszustand ein großes persönliches Risiko. Fragmente der Aufführung und das Leben der Schauspieler verschmelzen in Balagan zu einer explosiven Mischung.
Begründung der Jury
Der Film zeigt aus der Sicht einer israelischen Theatergruppe den Versuch, sich von der Last ihrer Geschichte zu befreien. Gleichzeitig lernen wir in diesem Kollektiv einen Palästinenser kennen, der sich mit Mut dafür einsetzt, den Hass zwischen Arabern und Juden zu überwinden. Beeindruckend ist die überzeugende filmische Verbindung von radikal provozierendem Theater und der konfliktreichen Lebenssituation der Schauspieler in ihrem Land.
Verleih: Arsenal Filmverleih Hamburg, Friedensallee 7-9, 22765 Hamburg
1993
Madame L’Eau
von Jean Rouch (Niederlande/Frankreich/Niger)
Madame L‘Eau erzählt die Geschichte dreier Männer aus Niger: Damouré, Lam und Tallou, die nach einer Lösung suchen, um der verheerenden Dürre, die ihre Ernte zu vernichten droht, ein Ende zu setzen. Der Wasserpegel des Niger-Flusses, der durch ihr Land fließt, fällt immer weiter ab, die Seitenarme des Flusses sind infolge der kontinuierlichen Entwaldung versandet. Darum muss ein Weg gefunden werden, um die Felder auf natürliche Weise zu bewässern. Damouré schlägt vor, sich mit ihrem Freund Philo Bregstein aus den Niederlanden in Verbindung zu setzen. Wie schaffen es die Holländer, das Wasser von einem Punkt zu einem anderen zu transportieren? In Enschede finden sie schließlich, was sie suchen: eine hölzerne Windmühle, die sie sogar selbst bauen können!
Ihr Traum wird wahr. Im Januar 1992 reisen die Filmcrew und ein Ingenieur nach Niger. Zusammen mit den Schreinern vor Ort gelingt es ihnen, die Mühle in einem Monat zu bauen. Da steht sie, in voller Pracht: eine hölzerne Mühle, selbsterdacht, selbstgebaut und selbstgenügsam. Die Mühle pumpt Wasser und bewässert das Land, auf dem sie nun alles anbauen und pflanzen können, sogar Tulpen.
Begründung der Jury
Madame L‘Eau ist ein Film, der auf wunderbare Weise das aktuelle Thema des nötigen Zusammenrückens von Nord und Süd zu einem poetischen Bild verdichtet. Er zeigt die Möglichkeiten von Kommunikation mit scheinbarer Beiläufigkeit und atemberaubender künstlerischer Souveränität. In phantasievoller Verknüpfung von Fiktion und Dokumentation entsteht ein zukunftsweisendes, humorvolles und tiefsinniges Abbild einer wünschenswerten Wirklichkeit und von Perspektiven menschlichen Miteinanders.
Anfragen an: Freunde der Deutschen Kinemathek, Potsdamer Straße 2, 10785 Berlin
1992
Rodina heißt Heimat
von Helga Reidemeister (BR Deutschland)
Februar 1991 in Berlin-Tiergarten, Feiern zum Tag der sowjetischen Streitkräfte – zum letzten Mal. Von Februar bis August drehten die Filmemacher in der alten Garnisonsstadt Meiningen und Umgebung im ehemaligen Grenzgebiet der DDR die letzten Monate vor dem Abzug eines sowjetischen Regiments. In den Tagen und Wochen nach dem Putschversuch vom 19. August 1991 folgten sie dem Regiment in das Auflösungslager in der südlichen Ukraine, von dort einzelnen Soldaten in weit entfernte Armeebezirke und Heimatorte nach Kiev, Moskau, Novosibirsk und Samarkand.
Begründung der Jury
Der Film begleitet den Abzug eines sowjetischen Regiments aus Meiningen/Thüringen und verfolgt mitten im Umbruch der UdSSR die Rückkehr einzelner Soldaten in verschiedene Republiken. Er entdeckt hinter den funktionierenden Soldaten denkende und fühlende Menschen. Im Zuschauer weckt der Film den Wunsch, den sowjetischen Soldaten einen Abzug in Würde aus Deutschland zu ermöglichen.
Verleih: Basis-Film Verleih, Körnerstr. 59, 12169 Berlin
1991
Alicia en el Pueblo de Maravillas (Alicia am Ort der Wunder)
von Daniel Diaz Torres (Kuba)
Der Film ist ein erfrischender, kritischer und satirischer Blick auf das gegenwärtige Kuba; als Metapher für die Gesellschaft erscheint ein gefängnisartiges Sanatorium mit einem bärtigen Direktor.
Begründung der Jury
Auf eine komödiantisch phantastische Weise werden viele Möglichkeiten des Mediums Film genützt. Bestechlichkeit und Gleichgültigkeit von Menschen tragen wesentlich zum Scheitern von Gesellschaften bei. Der Film inspiriert dazu, sich gewitzt und verantwortlich in gesellschaftliche Prozesse einzumischen. Die Jury hat intensiv darüber diskutiert, ob in dieser Zeit des Krieges und der offenen Gewalt überhaupt der Friedensfilmpreis vergeben werden kann. Kein Film kann dieser Situation gerecht werden. Aber gerade jetzt halten wir es für nötig, ein Zeichen, eine Geschichte der Hoffnung gegen die starke Erfahrung politischer Ohnmacht zu setzten.
Anfragen an: Freunde der Deutschen Kinemathek, Potsdamer Straße 2, 10785 Berlin
1990
Mein Krieg
von Harriet Eder und Thomas Kufus (Deutschland)
„Man ist gleich wieder drin in der damaligen Zeit. Was fehlt, ist ja nur der Ton von damals…“
Dies sagt ein ehemaliger Soldat beim Betrachten seiner stummen Filmaufnahmen. „Damals“ – das war während des Zweiten Weltkriegs, 1941, als die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel. Unter Hunderttausenden deutschen Soldaten hatten einige wenige ihre Schmalfilmkamera im Marschgepäck. Ihr Hobby nahmen sie mit in den Krieg – es war kein Propaganda-Auftrag, sie filmten aus Leidenschaft. Eine Leidenschaft, die mit dem Verlauf des Krieges immer mehr schwand – so wie auch das Rohfilmmaterial immer rarer wurde. Den Aufbruch der ersten Wochen drehten sie verschwenderisch. Beim Rückzug, die drohende Niederlage vor Augen, brechen die Aufnahmen ab.
Einige dieser persönlichen Filmdokumente gibt es noch: Aufbewahrt in Schachteln und Schubladen, in Schränken auf Böden und in Kellern. Nach einer aufwendigen Recherche in der Bundesrepublik und in Berlin meldeten sich einzelne Soldaten, die diesen Krieg filmten und überlebten. Kennenlernen, Sichten, Vorgespräche, der Drang zu erzählen – Erinnerungen werden lebendig: Baden im Schwarzen Meer, das tägliche Töten, Zusammenflicken im Feldlazarett. Die Perspektive, der private Blick, ist das Auffällige an diesen Bildern.
Begründung der Jury
Kriegserinnerungen etablierter Männer 1989 anhand eigener Filmaufnahmen, gedreht während des Überfalls auf die Sowjetunion. In eindrucksvoller Weise zeigt der Film MEIN KRIEG die immer noch in den Köpfen der Beteiligten herrschende Ignoranz, die verbrecherische Verbohrtheit der Pflichterfüllung, die große Lüge „Vaterlandsliebe“! Der Film entlarvt ihr Heldentum als gefährlichen kleinbürgerlichen Kriegstourismus.
Verleih: Basis-Film Verleih, Körnerstr. 59, 12169 Berlin
1989
Hotel Terminus – Leben und Zeit von Klaus Barbie
von Marcel Ophüls (USA)
Nach seinem langen Dokumentarfilm THE MEMORY OF JUSTICE (1976) hat sich Marcel Ophüls erneut auf die Erforschung der jüngsten Geschichte eingelassen, diesmal auf den Fall des Klaus Barbie, der von 1942 bis 1944 Kommandant der Gestapo im besetzten Lyon war. Im Hotel Terminus hatte die Gestapo während der Besetzung Frankreichs ungefähr zwanzig Zimmer zu Vernehmungsräumen umfunktioniert. Von hier aus wirkte Barbie, der „Henker von Lyon“. Das Hotel wurde so zum Symbol für die letzte Station seiner Opfer und für das Ende jeglicher Menschlichkeit. Marcel Ophüls hat in seinem Dokumentarfilm die unterschiedlichsten Elemente verarbeitet, um die Person Barbies und seine Gräueltaten darzustellen. Es sind ehemalige Schulkameraden des Gestapo-Kommandanten, Nachbarn, Angestellte, Sympathisanten und Opfer, die ihre Meinung über diesen Mann, seine Verbrechen und seine Zeit zum Ausdruck bringen. HOTEL TERMINUS ist keine scharfe und dramatische Anklage gegen Barbie, sondern eine sorgfältige Rekonstruktion, durch die eine bissige und intelligente Ironie über die grausamste Penode der modernen Geschichte durchschimmert.
Begründung der Jury
Marcel Ophüls brillanter, nicht „ausgewogener“ Dokumentarfilm führt uns vor Augen, wie weit der „Henker von Lyon“ und die Ideologie, die er vertritt, in unsere Zeit hineinwirken. Dieser vielschichtige Film fordert auch auf zu persönlichem Widerstand gegen Unmenschlichkeit und zur Überwindung der eigenen Trägheit.
Verleih: Filmwelt, Ismaninger Str. 51, 81675 München
1988
Signed: Lino Brocka (Gezeichnet: Lino Brocka)
von Christian Blackwood (USA)
Lino Brocka ist neben Mike de Leon der berühmteste Filmregisseur der Philippinen. In den letzten zwanzig Jahren hat er fast fünfzig Filme gedreht, darunter viele kommerzielle Produktionen, die ihm seine anspruchsvollen sozialkritischen Arbeiten ermöglichten. In ihnen hat er immer wieder die Ungerechtigkeit und den Terror des Marcos-Regimes angeprangert. Deshalb musste er persönliche Schwierigkeiten in Kauf nehmen, gewann aber auch den Ruf eines politischen Helden der Filipinos. Brocka erzählt in diesem Film von Christian Blackwood von seiner traumatischen katholischen Erziehung und von seiner Arbeit als Mormonen-Missionar in einer Leprakolonie. Und er äußert sich in trockenen Kommentaren zu seinen Filmen. Er gibt offen zu, dass er „soap operas“ für kommerzielle Produzenten dreht, Filme vom märchenhaften Aufstieg armer Lumpenproletarier, die den Filipinos in den Slums eine kurzfristige Flucht aus dem Elend gewähren. Er macht aber auch klar, dass seine Sympathien ganz den Versklavten und Unterdrückten gehören.
Begründung der Jury
Blackwood gelingt, indem er die Welt des couragierten philippinischen Regisseurs Lino Brocka ausmisst, ein mitreißender und komplexer Film über die schwierigen Versuche des „richtigen Lebens“ in einer verkehrten Welt. Der Film ermutigt zu einem Leben in Widersprüchen und zu sozialem und politischem Engagement im Alltag eines jeden.
Verleih: Freunde der Deutschen Kinemathek, Potsdamer Strasse 2, 10785 Berlin
1987
Joe Polowsky – Ein amerikanischer Träumer
von Wolfgang Pfeiffer (BR Deutschland)
Am 25. April 1945 trafen in Torgau an der Elbe Patrouillen der amerikanischen Armee auf sowjetische Einheiten. Dieses erste Zusammentreffen der beiden verbündeten Armeen besiegelte die militärische Niederlage des deutschen Faschismus. In der Euphorie ihrer kurzen Begegnung versprachen sich die Soldaten, alles zu tun, um einen neuen Krieg zu verhindern. Joseph Polowsky, ein Taxifahrer aus Chicago, war als einfacher Soldat bei diesem Treffen dabei. Er nahm das Versprechen so ernst, dass er den Rest seines Lebens – und selbst seinen Tod – der Verständigung zwischen dem amerikanischen und dem sowjetischen Volk und der Freundschaft zwischen den Veteranen der Elbe widmete, immer unter außergewöhnlichen, oft unter kuriosen Umständen. Der Film erzählt die Geschichte dieser Freundschaft und skizziert einen nicht alltäglichen amerikanischen Traum.
Begründung der Jury
Traditionellen und bis heute wirksamen Feindbildern setzt der Film die wahre Geschichte eines Träumers entgegen. Auf poetisch-humorvolle und künstlerisch herausragende Weise tritt der Regisseur für das Recht auf die friedliche Existenz eines jeden ein. Er ermuntert dazu, Völkerverständigung nicht den Regierenden zu überlassen.
Verleih: Ex Picturis, Fidicinstr. 40, 10965 Berlin
1986
Half Life (Halbwertzeit)
von Dennis O`Rourke (Australien)
Der Film beschäftigt sich mit den Bewohnern der Marshall-Inseln – winziger Punkt auf der Karte des Pazifik. Die Inseln wurden im 2. Weltkrieg von den Japanern besetzt und 1947 durch die Vereinten Nationen den USA als Treuhänderstaat übergeben. Eine UNO-Resolution verpflichtete die USA, die Rechte und Grundfreiheiten der Inselbewohner zu garantieren. Das geschah aber offensichtlich nicht. 66 Atombomben wurden im folgenden Jahrzehnt auf dem Atoll getestet, die Umwelt auf Generationen hinaus zerstört. Und als ob das noch nicht schlimm genug wäre, folgte 1954 der erste Test einer Wasserstoffbombe, die Einwohner der nahegelegenen Inseln wurden nicht evakuiert. Die Resultate dieses „Irrtums“ waren verheerend. Den Dokumenten zufolge, die Dennis O’Rourke in diesem denkwürdigen Film vorbringt, scheint ein schreckliches Verbrechen an einer unschuldigen, vertrauensvollen Bevölkerung begangen worden zu sein (die in den Wochenschaukommentaren der vierziger Jahre stets als „Wilde“ bezeichnet wird). Der Gegensatz zwischen dem Leben auf den Marshall-Inseln heute und vor den Tests ist vielsagend.
Begründung der Jury
Dieser Film entspricht am besten den friedenspolitischen Forderungen der Kampagne und den Zielsetzungen der UNO zum Internationalen Jahr des Friedens 1986. Die Aussage des Films lässt mit einiger Sicherheit annehmen, dass mit dem Atombombentest ein einmaliges Experiment zur Beurteilung möglicher Spätschäden nach Kernexplosionen anlaufen konnte. Das Verdienst dieses Films besteht darin, in dokumentarischer Unwiderlegbarkeit solche Überlegungen herauszufordern. Wir sind insbesondere davon beeindruckt, dass der Film eine so nachhaltige Wirkung erzielt, ohne auf sonst übliche Mittel emotionaler Stimulierung zurückzugreifen.
Verleih: Cine Terz, Buschstr. 18, 53113 Bonn
Bildnachweis:
„Heinrich-Böll-Stiftung Friedensfilmpreis: Bronzeplastik von Otmar Alt“: Bodo Gierga |“Favoriten von Ruth Beckermann“: Ruth Beckermann Filmproduktion | Foto der Jury 2024: Stephan Röhl | Foto der Preisträger 2023: Andreas Labes | Friedensfilmpreis 2022 „Sab changa si“: Teresa A. Braggs | Samuel Kishi Leopo (Preisträger 2020): Stephan Roehl | „Espero Tua ReVolta“: Carol Quintanilha | Jury 2018: Stephan Roehl