Karte und Infokasten Guinea

Von Mamadou Kaly Diallo (Veröffentlicht im KOMPASS #6 Migration anders denken)

Zahlreiche junge GuineerInnen kommen auf illegalem Weg nach Europa, oder sie leben und/oder arbeiten dort auf illegale Weise. Diese Art der Einwanderung wird klandes­tine Migration genannt und birgt für die Menschen, die sich dazu entschließen, enorme Risiken. In diesem Interview berichtet Ibrahima Sory Diallo*, ein junger Aktivist und Mitglied der Plattform junger AktivistInnen für Demokratie und Entwicklung (PJDD), von der aktuellen Lage in Gui­nea. Er schildert das Schicksal von Amadou Baldé*, einem klandestin migrierten Freund. Ibrahima Sory Diallo lebt in Niari Wada, einem Stadtteil von Conakry, der Hauptstadt Guineas. Die Fragen stellte Mamadou Kaly Diallo, Mitarbei­ter des Baïonnette Intelligente (dt.: intelligentes Bajonett), einem Projekt der Bildungsarbeit für Mitglieder der Streit­kräfte und der Zivilgesellschaft.

Wie ist die gegenwärtige Situation in Guinea?

In Guinea läuft zu viel schief. Wir sind schon seit Langem enttäuscht. Wir haben unsere Hoffnung verloren – insbeson­dere in den Präsidenten. Bevor er an die Spitze des Staates gewählt wurde, hatte er uns Versprechungen gemacht, die er danach nicht gehalten hat. Er hatte uns versprochen, dass im Falle seines Wahlsiegs 50 Kilogramm Reis zum Preis von 25.000 GNF [etwa 2,50 €; Anm. d. Red.] verkauft würden, doch nun ist der Reis noch teurer als vorher. Er hatte auch versprochen, den Studierenden Tablets bereitzustellen und Brücken zu bauen, doch von alldem haben wir bis heute nichts gesehen. Bei so vielen Lügen entsteht zwangsläufig Misstrauen. Wir misstrauen unserem Präsidenten und haben keine Hoffnung mehr.

Deshalb emigrieren die GuineerInnen zu den Weißen. Wenn es hier Hoffnung gäbe, blieben sie, schließlich lieben die Men­schen ihr Land und sind am liebsten zu Hause. Ganz egal, was sie in all den Jahren in Europa erleben – letztlich wollen die Menschen immer nach Hause zurück.

Was weißt du über das Schicksal von Amadou Baldé?

Amadou Baldé ist über Marokko nach Europa gereist. Nach seiner Ankunft in Europa rief er mich an, um sich dafür zu entschuldigen, dass er sich nicht von mir habe verabschieden können, weil er klandestin gereist sei. Er hat gewusst, wie sehr ich ihn mag und dass ich nicht wollen würde, dass er unterwegs sein Leben verliert.

Amadou hatte studiert und war Mitglied der PJDD. Er hatte beim Baïonnette Intelligente Fortbildungen besucht und war dafür sogar bis nach Labé gereist. Wie erklärst du dir seine Entscheidung für die klandestine Ausreise trotz aller bestehenden Risiken? Warum wollte er sein Glück bei der Arbeitssuche nicht hier probieren?

Ich glaube, dass er ausgereist ist, weil er hier keine Perspek­tive mehr gesehen hat. Wir hatten ein Projekt hochgezogen, mit dem wir Arbeitsplätze für mehr als 500 junge Menschen schaffen wollten. Damit sie vor Ort bleiben und sich in den unterschiedlichsten Berufsbereichen eingliedern, beispielsweise in der Schneiderei, dem Maurerhandwerk, der Klempnerei oder der Mechanik. Wir hatten Fördergelder beantragt, doch es war alles vergebens, denn die Regierung half uns nicht. Der Regierung ist unser Bildungssystem gleichgültig – du wirst nie den Sohn eines Ministers in Guinea studieren sehen. Sie neh­men das ganze Geld des Landes und bringen es ins Ausland. Sie schicken ihre Söhne zum Studieren an die großen Universitäten nach Harvard oder an die Sorbonne, und dort kaufen sie sich auch ihre Villen, um ihre Söhne zu beherbergen.

Wie hatte sich Amadou bei den Demonstratio­nen und im politischen Leben engagiert?

Amadou war ein junger Aktivist und teilte meine Hoffnung, dass in Guinea Veränderung möglich ist. Dies war auch unser Leitgedanke: Wenn wir gemeinsam rausgingen, um die anderen jungen Menschen gegen Gewalt zu sensibilisieren; wenn wir ihnen sagten, dass sie friedlich demonstrieren und die Ord­nungskräfte nicht provozieren sollen. Denn es gibt tatsächlich junge Menschen, die Ordnungskräfte wegen den von ihnen getöteten DemonstrantInnen provozieren. Auch ich hatte diese Einstellung, bis zu meiner Begegnung mit dem Baïonnette Intelligente.

Aber manchmal gehen die Provokationen auch von den Ordnungskräften selbst aus, beispielsweise wenn sie friedliche Demonstrationen mithilfe von Tränengas verhindern wollen. Dabei haben wir das Recht zu demonstrieren.

Unter welchen Umständen lebte Amadou vor seiner Abreise?

Amadou hat ein Diplom in Rechtswissenschaften; er war unverheiratet, hatte keine Kinder und lebte bei seinen Eltern, wobei es seinem Vater nicht gut ging. Amadou trug unglaublich viel Verantwortung und so langsam wuchsen ihm die Sorgen über den Kopf. Die Flucht dürfte ihm alternativlos erschienen sein, weil es hier nun einmal keine Perspektive gibt. Seine Mutter verkauft Brei und Gebäck, und jedes Mal, wenn sie mich sieht, würde sie am liebsten weinen vor lauter Sorge um ihren Sohn. Sie hat auch noch zwei Pflegesöhne, die trotz ihrer Abschlüsse ebenfalls arbeitslos waren. Sie hatten lange eine Arbeit gesucht, aber kein einziges Angebot gefunden. Denn wenn du keine Verwandten oder Bekannten in der Regierung hast und kein Mitglied der Regierungspartei RPG bist, dann wirst du von der Regierung auch keine Arbeit bekommen. Die Pflegesöhne wurden sich darüber bewusst, dass es an der Zeit war, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und ihren Familien zu helfen. Sie machten sich auf die Reise nach Europa. Dabei verloren sie ihr Leben – sie ertranken im Mittelmeer, mit ihren Diplomen in der Tasche. Ein anderer junger Bruder, Abdoulaye, 22 Jahre alt, starb ebenfalls im Mittelmeer vor Marokko.

Siehst oder hörst du trotz all der Toten auch heute noch Menschen, die bereit sind aufzubrechen?

Ja, massenhaft, denn ein hungriger Bauch hat keine Ohren. Um jemanden davon zu überzeugen hierzubleiben, muss man ihm eine Beschäftigung geben. Man will uns schon seit Jahren weisma­chen: „Das wird schon alles, das wird schon alles“, aber bis heute ist nichts passiert. Einige der Aufbrechenden verabschieden sich nicht einmal. Erst nach ihrer Ankunft in Mali oder Marokko, aber auch in Libyen, wo manche von ihnen nach wie vor im Gefäng­nis sitzen, rufen sie an und erzählen, dass sie auf dem Weg nach Europa sind. Dann ergeben auch Warnungen keinen Sinn mehr, denn sie werden schlicht nicht mehr gehört. Dabei raten selbst diejenigen, die das Glück hatten durchzukommen, den potenziel­len NachzüglerInnen immer davon ab, diesen Weg einzuschlagen.

Paradoxerweise – vielleicht ist es ein Modephänomen oder geschieht aufgrund von Manipulation – gibt es auch junge Menschen, die zwar nicht bedürftig sind, da sie mit ihren Eltern zusammenarbeiten oder aus reichen Familien kommen, die den­noch all dies aufgeben, um klandestin nach Europa zu emigrie­ren. Doch wenn sie erst einmal dort sind, bereuen sie ihre Entscheidung, da sie dort viel weniger verdienen, als sie hier verdienen wür­den, und zudem häufig in Flüchtlingscamps interniert sind. Viele von ihnen wollen dann in ihr Ursprungsland zurückkehren, haben aber kein Geld für ein Flugticket zurück.

Was können wir deiner Meinung nach tun, damit die klandestine Auswande­rung nach Europa, vor allem aber das Sterben im Mittel­meer, nachlassen?

Es muss viel mehr in Afrika inves­tiert werden, wobei diese Mittel nicht durch die Hände der Regierungen geleitet werden dürfen, da sie sonst zweckentfremdet werden. Es müssen Tausende unerschlossene Hektar im Landesinneren für Landwirtschaft und Plantagen urbar gemacht werden, es müssen für Tausende von jungen Arbeitslosen Fabri­ken gebaut werden. Diejenigen, die nach Europa emigriert sind und dort teilweise unter freiem Himmel schlafen, müssen zur Besetzung dieser neuen Arbeitsplätze zurückkommen.

Wenn all dies geschehen ist, werden die anderen und ich nur noch als TouristInnen nach Europa reisen. Ich bin viel lieber hier als in Europa, denn hier kann ich mit meinen Eltern, meinen Kindern und meinen Bekannten zusammenleben. Diejenigen, die jetzt in Europa sind, können ihre Eltern nicht zu Hause besuchen, denn wenn sie erst einmal hier sind, können sie nicht mehr nach Europa zurück. Manche würden gerne nach Guinea zurückkehren, tun dies aber nicht, weil sie in Europa nichts erreicht haben.

*Namen von der Redaktion geändert

Aus dem Pular ins Französische von Ibrahima Sakony Diallo und Mamadou Kaly Diallo; aus dem Französischen von Jo Schmitz und Martina Körner

 

 

Mit der diesjährigen Ausgabe unseres Themenmagazins KOMPASS „Migration anders denken“ begegnen wir mit „Perspektiven aus dem Globalen Süden“ den unterschiedlichen Facetten von Migration.

Laut der „Internationalen Organisation für Migration“ macht die Süd-Süd-Migration mit mittlerweile mehr als 92 Millionen MigrantInnen den größten Teil der weltweiten Migration aus. Im KOMPASS #6 werfen 12 Beiträge, die unsere SüdpartnerInnen in Afrika, Südamerika und Asien gesammelt und aufgeschrieben haben, ein neues Licht auf die Thematik.

 

 

15.05.2018

Gepostet in: Der KOMPASS - Das Themenheft des Weltfriedensdienst, Guinea: Stärken von Demokratie und Bürgerrechten für Frieden