Die Angst vor einem Rückfall in die Zeit der Militärdiktatur ist in Myanmar größer als die Angst vor dem Militär © Jella Fink

 

Unsere Landeskoordinatorin Dr. Jella Fink war vor Ort, als das Militär die gewählten Abgeordneten festnahm, den Ausnahmezustand ausrief und zum Teil das Kriegsrecht verhängte. Der 1. Februar 2021 hat das Leben der Menschen in Myanmar schlagartig verändert. Landesweit wehrt sich das Volk mit Massendemonstrationen, Streiks und zivilem Ungehorsam.

Bericht von Dr. Jella Fink

Ich bin überwältigt: Das gesamte Land befindet sich im Widerstand.“ Er formiert sich generationenübergreifend in losen Netzwerken. Es gibt keine übergeordneten Leitungsstrukturen in der Widerstandsbewegung. Die Organisationen ethnischer Minderheiten und ihre Sicherheitskräfte haben der Protestbewegung ihre Unterstützung erklärt.

 

Ziviler Ungehorsam

Klar ist: Der Versuch der schnellen Machtübernahme des Militärs durch einen Staatsstreich ist gescheitert. Die Menschen wehren sich und viele riskieren Gefängnis, Folter, Jobverlust und das Überleben ihrer Familien. Die Bevölkerung entzieht sich der brutalen Gewalt des Militärs durch friedliche Mittel:

 

Streiks – Beschäftigte in Krankenhäusern, Schulen und Universitäten, Angestellte des öffentlichen Dienstes, des Banken- und Transportsektors, und Fabrikarbeiter*innen haben das Land komplett lahm gelegt.

Proteste – Obwohl sie ihr Leben gefährden, demonstrieren die Menschen mit Spontan-Protesten wie Flashmobs und anderen Aktionen, z.B. zu langsames Fahren, um den Verkehr stillzulegen.

Boykotte – Firmen der Streitkräfte werden boykottiert. In kürzester Zeit erfolgreich war der Boykott der populären Marke „Myanmar Beer“, einem Joint Venture mit einem japanischen Bierbrauer.

 

Diese Bewegung zivilen Ungehorsams (Civil Disobedience Movement) will das gesamte Land mit der Absicht stilllegen, es unregierbar zu machen. Und um den Streitkräften ihre finanzielle Grundlage zu entziehen.

Die Menschen in Myanmar bringen ihren politischen Willen für Wandel weiterhin sehr klar zum Ausdruck. Die Bürgerinnen und Bürger kämpfen für einen demokratischen, föderalen Staat, der die ethnischen Minderheiten einbezieht.

 

Brutale Gewalt gegen Zivilist*innen

Seit dem 1. Februar herrscht inmitten der Pandemie ein flächendeckender Ausnahmezustand. Das Militär setzt Kriegswaffen und Luftangriffe gegen Zivilist*innen ein. Mehr und mehr Menschen geraten in den Fokus des Militärs. Gegen hunderte Bürger*innen wurden Haftbefehle erlassen, darunter Parlamentarier*innen, Prominente, Influencer*innen, Journalist*innen und Aktivist*innen. Tausende sind im Gefängnis, weil sie sich den Streitkräften widersetzt haben.

Das Militär foltert Zivilist*innen. Es richtet Protestierende mit gezielten Kopfschüssen hin und verschleppt die Leichname. Mehr als 800 Frauen, Männer und Kinder hat die Junta seit dem 1. Februar getötet, berichtet die örtliche Hilfsorganisation für politische Gefangene (AAPP). Menschrechtsaktivist*innen, Journalist*innen und Prominente müssen sich verstecken oder ausreisen. Trotzdem posten die Protestierenden Videos in den sozialen Medien, in denen sie die Gewalteskalation der Streitkräfte dokumentieren.

Wir beobachten weiterhin gezielte Attacken gegen medizinisches Personal und Krankenhäuser. Das sind klare Verstöße gegen internationales Völkerrecht.

Jede und jeder lebt in einem ständigen mentalen Belastungszustand. Nachts terrorisieren Festnahmen und Schusswechsel die Nachbarschaften. Niemand schläft mehr gut. Auch mir ging es so, und das, obwohl ich selbst glücklicherweise recht sicher untergebracht war. Die meisten hingegen sind den unberechenbaren nächtlichen Attacken des Militärs schutzlos ausgeliefert. Und es gibt niemanden, den sie zu Hilfe rufen könnten. Niemand ist mehr sicher, nicht einmal Kinder im eigenen Heim.

Durch den Genozid an den Rohingya ist uns bereits illustriert worden, wozu das Militär fähig ist. Dass Ähnliches nun landesweit geschieht, bedeutet für viele ein schmerzhaftes Erwachen. Die ruhig abgelaufenen Wahlen im November 2020 und das erfolgreiche Pandemiemanagement der zivilen Regierung im letzten Jahr hatten ja für eine Rückkehr zur Normalität gesorgt. Nicht im Ansatz haben wir diese Gewalteskalation vorhergesehen.

Trotz dieser Formen physischer und psychologischer Kriegsführung gegen die eigene Bevölkerung ist der Wille der Menschen ungebrochen. Im Gegensatz zum Militär hat die Mitte April gegründete Nationale Einheitsregierung das volle Vertrauen der Bürger*innen.

Die Menschen protestieren weiter, in vielen Fällen unter Einsatz ihres Lebens. Ihre Solidarität untereinander und das, was sie selbst opfern, um das Land endgültig dem Militär zu entreißen, sollte uns Ansporn sein, sie darin zu unterstützen.

 

Die Zukunft ist ungewiss

Im Überblick zeigt sich somit das Bild einer starken, im Kampf vereinten, im Ziel jedoch uneinigen Widerstandsbewegung. Diese steht einem mächtigen, noch im Aufbau befindlichen Militärstaat gegenüber. Dieser hat seinen Willen zur Machterhaltung bereits mehrfach bewiesen. Demgegenüber gibt es kaum Gründe, auf eine internationale Lösung zu hoffen. So zeichnet sich ein Belagerungszustand ab: Ohne das Volk wird das Militärregime kaum regieren können. Gleichzeitig ist kaum zu erwarten, dass das Militär in absehbarer Zeit Zugeständnisse machen wird.

Wenn es der Widerstandsbewegung gelingt, die Junta über längere Zeit in ihrer Regierungsfähigkeit einzuschränken, werden wahrscheinlich andere Probleme in den Vordergrund rücken: da ist vor allem die COVID-19-Pandemie und die daraus entstehende Wirtschaftskrise, aber auch der ungebrochene Konflikt der Ethnien und Religionen. Letzteren versucht das Militär bereits durch eine Strategie des Teile-Und-Herrsche zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Es bemüht sich, ethnische bewaffnete Gruppen auf seine Seite zu ziehen – bislang mit begrenztem Erfolg.

Welche Folgen wird es haben, wenn ein kaum regierungsfähiges Regime ohne Rückhalt in der Bevölkerung über längere Zeit an diesen Problemen scheitert? Das kann nur die Zukunft zeigen. Die Energie der aktuellen Widerstandsbewegung lässt hoffen, dass es neue progressive Kräfte sind, die gerade frei werden. Myanmar wird sie brauchen.

Dr. Jella Fink, Mai 2021

 

Ihre Spende macht einen Unterschied

Beteiligen Sie sich mit einer Spende an der Finanzierung von zwei anonym angemieteten, sicheren Häusern für Menschen, die von Haft bedroht sind. Die Kosten belaufen sich monatlich pro Haus auf 280 Euro, eine Laufzeit von 6 Monaten ist angedacht.


P.S.: Wie unsere Kolleg*innen aus den Partnerorganisationen in Myanmar auf diese Krise reagieren, berichten wir Ihnen nicht. Zu groß ist die Angst um ihre Sicherheit und die ihrer Familien.

 

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27.05.2021

Gepostet in: Aktuelles, Myanmar: Friedensprozesse auf Gemeindeebene fördern